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Dércio Marques - Filter und Schöpfer brasilianischer Volksmusik

Dércio Marques war ein leidenschaftlicher Bewahrer der brasilianischen Volksmusik. Er erforschte die musikalischen Wurzeln Brasiliens, brachte unbekannte Künstler wie Elomar ans Licht und verarbeitete die Natur und Kultur in poetischen Liedern. Marques stellte dabei nie sich selbst in den Vordergrund. Er war eine Art von Meister, der die Entdeckungen seiner Forschungen großzügig ausstellt und mit einem Netzwerk von Künstlerinnen und Künstler teilt. Heute erhält das Netzwerk von Marques das Erbe.

 

In meinem Blog geht es auch darum, Künstlerinnen und Künstler vorzustellen, die nicht in der vordersten Reihe der brasilianischen Musik stehen. Dércio Marques hat niemals sich, sondern immer die brasilianische Musik und ihre Wurzeln in den Vordergrund gestellt. Ihm ging es um die Sache und für die arbeitete er unter anderem mit Paulinho Pedra Azul, João do Vale, Xangai, Saulo Laranjeira und Pereira da Viola zusammen. Und natürlich mit seiner wichtigsten musikalischen Partnerin, seiner Schwester Doroty Marques. Mit ihr zusammen produzierte er neben vielen anderen Alben im Jahr 1996 ein Album für Kinder mit dem Titel "Monjolear" - und was seinen besonderen Ansatz von Musik als Gemeinschaftserlebnis beweist, ist, dass dieses Album nicht nur für Kinder, sondern mit Kindern entstanden ist. In den unzähligen Workshops haben die Geschwister Marques dieses Album zusammen mit 240 Kindern entstehen lassen. Sie haben das Album mit den Kindern erarbeitet. Viele traditionelle Weisen finden sich darauf, die ohne die Arbeiten von Dércio und Doroty wahrscheinlich verloren gegangen wären. Durch die Arbeit mit den Kindern ist das Fortleben dieser brasilianischen "Traditionals" für die nächsten Generationen gesichert. Die Arrangements sind behutsam und die Kinder kommen mit ihren Stimmen zum Gehör. Für mich ein typisches Beispiel für den Ansatz der Dércio- und Dorotyschule.

Ich habe Dércio Marques einmal in einer Fernsehsendung gesehen, meiner Lieblingssendung namens "Senhor Brasil" mit dem fantastischen Sänger, Komponisten Rezitator und Moderator Rolando Boldrin, der sich ebenso wie Marques um die Traditionen der brasilianischen Musik verdient gemacht hat. Dort erzählte Dércio Marques eine spannende Geschichte aus der Stadt Jequitinhonha. Dort fand er das Lied "Riacho de Areia-Beira-Mar" bei seinen musikalischen Feldforschungen. Eine Zeile des Lieds lautet übersetzt: "Ich wohne nicht mehr hier, und ich möchte auch nicht mehr hier wohnen [...] Ich wohne in der Limettenschale, im Kern des Juábaumes." (Eu não moro mais aqui Nem aqui quero morar Ô beira-mar, adeus dona Adeus riacho de areia Moro na casca de lima No caroço do juá Ô beira-mar, adeus dona.) Der Sprecher distanziert sich vom physischen Ort und findet seinen Wohnsitz in der Natur – konkret in winzigen, symbolträchtigen Teilen von Pflanzen, in der Schale und im Kern also im Außen und Innen zugleich. Dieser Text des traditionellen Lieds erinnert Dércio Marques an einen gewissen Joachim Quäck (*1804 in Brasilien als (Borun) Kuêk, †1834 in Neuwied, Rheinland-Pfalz). Dieser Joachim war ein indigener Botokude, der den Forscher Maximilian zu Wied auf dessen Brasilienreise begleitete. Als Übersetzer und Kulturvermittler wurde Kuêk/Quäck zum Bindeglied zwischen zwei Welten. Er ging mit dem Forscher nach Deutschland und lebte dort als Kammerdiener von Maximilian zu Wied. Trotz seines Heimwehs blieb er bis zu seinem Tod in Deutschland, wo er auch begraben wurde. Diese Zerrissenheit - weder hier noch dort zu leben, erlebte Kuêk/Quäck. Wo war er zu Hause? Wo war sein Kern und wo die Schale? Die Geschichte des zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Deutschland verzogenen und zum Quäck gewandelten indigenen Kuêk zeigt, wie Marques in die tieferen Schichten der traditionellen Lieder Brasiliens eintaucht und diese erzählerisch präsentiert. Er ist dadurch wie ein Filter über die Bilder Brasiliens, der dessen Ursprünge und Verflechtungen unter der Oberfläche hervorbringt, die bis nach Neuwied in Rheinland-Pfalz reichen können. Leider ist Dércio Marques 2012 viel zu früh verstorben, nur zwei Monate, nachdem er bei "Senhor Brasil" die Geschichte von Kuêk/Quäck erzählt hatte.

 

(Foto: "Revista Música" (06/1980), Artikel "Dercio Marques: O canto forte de um trovador" von Angelo Iacocca)

 

Titel: Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied mit Joachim Quäck auf der Jagd im brasilianischen Urwald, Johann Heinrich Richter (1803–1845), Jahr: 1828 Medium: Öl auf Leinwand Sammlung: Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH, Stuttgart
Titel: Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied mit Joachim Quäck auf der Jagd im brasilianischen Urwald, Johann Heinrich Richter (1803–1845), Jahr: 1828 Medium: Öl auf Leinwand Sammlung: Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH, Stuttgart