· 

Mariana Aydars Forró: Die Zukunft hat ihn schon gehört!

Die Latin-Grammy-Gewinnerin von 2020 und 2024 Mariana Aydar zeigt, wie traditioneller Forró mit frischem Sound und femininer Perspektive modernisiert werden kann. Mit Elementen aus Pop, Elektronik, urbaner Poesie und Kollaborationen mit Künstlern wie Chico César oder Mestrinho macht Mariana Aydar Forró - auch den klassischen - einem neuen Publikum und der jungen Generation zugänglich. In dem Lied "O futuro já sabia" geht es darum, dass die Zukunft schon gewusst hat, was wir noch erfahren.

 

Sie singt dieses von Felipe Barros und Ed Staudinger komponierte Lied zusammen mit Chico César. Das Lied ist im traditionellen Forró Pé-de-Serra-Rhythmus geschrieben, also in der ursprünglichsten Form dieses Musik- und Tanzstils aus dem Nordosten Brasiliens, den wir in unserem Blog schon kennengelernt haben, als es um Luiz Gonzaga und Humberto Teixeira ging. "Pé de serra" bezeichnet die geografische Lage "am Fuße der Hügelketten", also die Orte, an denen im ländlichen Raum einfache Leute wie Bauern und Wanderarbeiter diese Musik hervorgebracht haben. Der Großmeister des Forró, Luiz Gonzaga, sammelte diese Geschichten und Rhythmen und bereitete sie musikalisch so auf, dass sie von einer regionalen musikalischen Erscheinung zu einem landesweit beachteten und respektierten Musikstil geformt wurden, der auch in der High Society Rio de Janeiros Anklang fand. Die klassische Besetzung mit Akkordeon, Zabumba (eine Trommel) und Triangel arrangiert Mariana Aydars Song "O futuro já sabia" modern und bezieht elektronische Klänge ein. Das Lied greift textlich klassische und zentrale Themen der nordöstlichen Musik und des Forró auf, und zwar die Magie der Festas Juninas, der traditionellen Juni-Feste zu Ehren von São João Batista, Santo Antônio, São Paulo und São Pedro. Bei diesen Festen werden Forró und Quadrilha getanzt, die Menschen kleiden sich im ländlichen Stil, die Männer tragen karierte Hemden und Strohhüte, Frauen bunte Rüschenkleider mit Zöpfen und Sommersprossen, und kulinarisch dreht sich viel um den Mais, da diese Feste auch das Ende der Regenzeit und den Beginn der Erntezeit bedeuten. Diese Feste verbinden die verschiedenen Generationen und Groß und Klein machen dabei gerne mit - die Alten erinnern sich daran, wie sie das erste Mal bei einer Festa Junina Forró getanzt haben, die Jungen wissen noch nicht, mit wem sie als Großeltern oder Eltern mit Strohhut auf dem Kopf oder aufgemalten Sommersprossen im Gesicht künftig einmal darüber nachdenken, wie alles begann. Insofern ist das Setting des Textes im Lied "O futuro já sabia" genau das richtige, um darüber nachzudenken, wie sich in einer größeren Perspektive die Linearität der Zeit aufhebt. Für das Schicksal, das immer schon alles wusste, so das Lied, gibt es keinen linearen Zeitablauf, sondern es steht schon fest, was passiert - nur aus der Perspektive unseres menschlichen Lebens entspinnt sich das Schicksal linear, also jedes Ereignis passiert für uns, indem es einem anderen Ereignis folgt.

Ich finde diese Idee ziemlich interessant, dass lange Traditionen, wie z.B. die Festas Juninas in ihrer kontinuierlichen Wiederkehr eine Perspektive ermöglichen, die uns die Nichtlinearität unseres Lebens bzw. die Einheit unseres Lebens in seiner Gesamtheit betrachten lassen. Ich erinnere mich, dass ich als Kind auf derartigen Festen schon manchmal gespürt habe, wie es sich anfühlen würde, später einmal als Oma auf so einem Fest die jungen Leute zu beobachten in der Erinnerung daran, wie es früher einmal war. Das Lied bringt für mich genau diesen Gedanken auf den Punkt.

Das Verb "sabia" ist das Präteritum Imperfekt des Wortes "saber", also "wissen". Man benutzt diese Form, wenn man Zustände, Gewohnheiten oder Hintergrundhandlungen ausdrücken will. Das Wissen der Zukunft dauert also seit der Vergangenheit an und reicht bis in die Gegenwart. Der Inhalt dieses Wissens, nämlich darüber, dass "wir beide auf dem Festa Junina im Festsaal gemeinsam tanzen würden", wurde also immer schon gewusst. Von wem eigentlich genau?

Wenn man diesen Gedanken von der Vergangenheit kommend in die Zukunft weiterspinnt, dann kommt man ausgehend von dem Liedtext sogar in eine philosophisch-religiöse Dimension: Der Wissensinhalt wurde nicht nur immer schon gewusst, sondern er muss auch in Zukunft immer gewusst werden; denn es wird immer wahr gewesen sein (Futur II), dass wir gemeinsam im Festsaal getanzt haben - und wenn es immer wahr gewesen sein wird, dann muss es etwas geben, was diesen Wissensinhalt in sich aufhebt. Wahrheit ist nämlich die Übereinstimmung zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit. Damit diese Tatsache immer wahr sein kann, bedarf es eines ewigen Bewusstseins, das auch in Zukunft, wenn vielleicht alle Menschen auf der Welt wie die Dinosaurier ausgestorben sind, diese Tatsache weiß. Ansonsten hätten Vergangenheit und Gegenwart irgendwann keinen Wahrheitssinn mehr. Wenn man über so ein Lied wie "O futuro já sabia" nachsinnt, dann gelangt man schließlich sogar zum Gottesbeweis aus dem Futur II des Philosophen Robert Spaemann. Ein schönes Lied! Ein guter Sound, ein toller Text und eine Sängerin, die dabei hilft, die Musiktradition des Nordostens auch für zukünftige Bewusstseinsinhaberinnen und -inhaber präsent zu halten.

In den Videos könnt ihr die Studio- und eine Liveversion von Mariana Aydars Lied hören. Außerdem stelle ich euch ein Lied ein, das ich als Quadrilha-Tanz-Lied zu den Festas Juninas komponiert habe, es heißt "Simpatia de São João".

 

(Titelbild: As fotos da Virada!, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons)

 

São João de Caruaru
Bild: Ministério da Cultura, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons
Quadrilha São João no Pelô
Bild: Agecom Bahia, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons