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Hans-Joachim Koellreutter: Der bewegende Beweger der brasilianischen Musik

"Es ist schwieriger zu sagen, wie viele Schüler Hans-Joachim Koellreutter in Brasilien hatte, als zu sagen, wer nicht sein Schüler war. Er war ein musikalischer Grenzgänger, der die brasilianische Musiklandschaft nachhaltig prägte. Er floh aus Nazideutschland und brachte als Vermittler avantgardistischer Ideen z.B. die Zwölftontechnik nach Brasilien und inspirierte zahlreiche Komponisten – darunter auch Tom Jobim. Als Lehrer öffnete er Türen für kreative Freiheit und kulturellen Dialog.

 

Da ich in Brasilien kein klassisches Musikstudium absolviert habe, ist mir der Name Koellreutter das erste Mal untergekommen, als ich mich für die Biografie Tom Jobims interessiert habe und wissen wollte, woher der Bossa Nova kam. Dabei lernte ich, dass Hans-Joachim Koellreutter der erste Lehrer Tom Jobims war. Dieser erhielt mit 13 Jahren Unterricht in Klavier und Harmonielehre von dem Deutschen, der Brasilianer wurde, nachdem er wenige Jahre zuvor vor den Nazis aus Deutschland nach Brasilien geflohen war. Der Einfluss von Koellreutter auf Tom Jobims Kompositionen oder auf die Entwicklung des Bossa Nova kann ich nicht einschätzen. Einen "direkten" Einfluss kann man höchstwahrscheinlich nicht feststellen, dafür war Jobim vielleicht noch zu jung und Koellreutter zu sehr in der klassischen Musik unterwegs - wobei das seiner Meinung nach wahrscheinlich schon zu sehr und zu Recht schon ein Denken in Schubladen ist, gegen das er sein Leben lang ankämpfte. Beispielsweise geriet er in diesem Kampf gegen Schubladen auch in einen strengen Konflikt mit der Schule von Heitor Villa-Lobos. So vertrat der international wohl bekannteste klassische Komponist Brasiliens einen identitätsstiftenden Nationalstil, wollte durch die Fusion von Volksmusik und Klassik authentisch brasilianische Musik schaffen. Er verband dabei Chôros, Modinhas und indigene Rhythmen mit westlichen klassischen Formen wie Fuge, Suite und Sinfonie. Das gelang ihm auf wunderbare Art und Weise, die "Bachianas Brasileiras" gehören wirklich zum Schönsten, was Brasiliens Musik zu bieten hat.

Der offene Ansatz Koellreutters hingegen, Zwölftonmusiker und durch seine durch die Naziverfolgung für sein Überleben notwendig gewordene Flucht, steht der Idee, dass musikalische Identität an ein bestimmtes Land gebunden ist, diametral entgegen. Dieser Ansatz handelte ihm sogar offene Angriffe durch Anhänger von Villa-Lobos ein.

Koellreutters Leben ist auch in Brasilien eines, dass sich durch Ortsungebundenheit kennzeichnet. Nachdem er in Rio de Janeiro begann, wo er auch Institutsleiter des Goethe-Instituts war, pendelte er nach São Paulo, nach Bahía und später nahm er Leitungsfunktionen an Goethe-Instituten in Indien und Japan an. Ein Komponist, der Koellreutter gut kannte, sagte einmal, dass dieser ständig in Bewegung gewesen sei und dabei viel bewegt habe. Das materialisierte sich in der Gründung zahlreicher Musikschulen und der Musikgruppe "Música Viva", mit der er komponierte, musiktheoretische Bulletins veröffentlichte und Radiosendungen produzierte. Unter seinem Einfluss kamen auch andere europäische Musiker, darunter Ernst Widmer und Henry (geb. Heinz) Jolle (letzterer musste wie Koellreutter aus Nazi-Deutschland und dann dem besetzten Frankreich fliehen) zu Anstellungen an Musikschulen, an deren Entstehen Koellreutter maßgeblich beeinflusst war, wie Widmer an den "Seminários livres da Música" in Salvador und Jolle an der "Escola livre de Música" in São Paulo. Durch all dieses Wirken gibt es Leute, welche die brasilianische Musik in vor-koellreuttersche und nach-koellreuttersche Zeiten einteilen.

Doch zurück zu der Entdeckung, dass Tom Jobim als dreizehnjähriger Unterricht bei diesem klassischen Komponisten der Zwölftonmusik erhalten hatte, bevor er den Bossa Nova erfand. In welchem Zusammenhang stehen diese beiden historischen Tatsachen? Wie gesagt, einen direkten Einfluss auf die Erfindung des Bossa Nova wird man kaum behaupten können. Aber wie Koellreutter sich als Pädagoge verstand, kann Jobim so beeinflusst haben, dass er sich überhaupt traute, den Bossa Nova zu erfinden. Koellreutters pädagogische Motivation ist die Offenheit und Wertschätzung gegenüber dem Schüler als Menschen gewesen und damit gegenüber dem, was der Schüler als Äußerung seiner Person kreativ hervorbringt. Es ging ihm darum, den Schüler in die Lage zu versetzen, selbst etwas Eigenständiges hervorbringen zu können: Das beinhaltet immer auch die Möglichkeit, sich gegen den Weg zu entscheiden, den der Lehrer vorzeigt. Koellreutter scheint mir diese Methodik so ernst genommen zu haben, dass man zwar von der vor- und nachkoellreutterschen Zeit der brasilianischen Musik sprechen kann, dass man aber nicht sagen kann: Es gibt eine Koellreutter-Schule. Es gibt keine "Koellreutterianer". Der Offenheit verpflichtet hat Koellreutter auf diese Option von Macht verzichtet. Er hat Impulse gegeben, Inspirationen verursacht und die Personen und Dinge dann ihrem Lauf überlassen. Es wäre schön, wenn dieser in Deutschland geborene Komponist, der eine zentrale Figur der brasilianischen Musik des zwanzigsten Jahrhunderts geworden ist, in seinem Geburtsland mehr Aufmerksamkeit erfahren würde. Man könnte sicher viel Interessantes entdecken. Zum Beispiel die besondere Art der "Partitur", die Koellreutter erfunden hat und die ihr auf dem Piano im zweiten Video stehen sehen könnt.

 

(Bild: Brazilian National Archives, Public domain, via Wikimedia Commons)