Der Komponist und Sänger Belchior stammt (so wie ich) aus Ceará und studierte an der Universität UECE Philosophie (so wie ich). Er wurde 1943 in der Stadt Sobral geboren und starb 2017 ganz im Süden Brasiliens in Rio Grande do Sul. Als er starb, wohnte ich in Fortaleza und ich kann mich gut daran erinnern, wie der Sarg Belchiors auf einem Feuerwehrauto aufgebahrt in einer feierlichen Trauerparade von Sirenen begleitet zur Mittagszeit ("na hora do almoço") unter meinem Küchenfenster vorbeifuhr.
Als Belchior starb, verhängte der Gouverneur von Ceará drei Tage Staatstrauer, was zeigt, welche Bedeutung der singende Dichter für die Leute aus Ceará hat. Er gehörte wie Amelinha, Ednardo, Fausto Nilo oder Fagner zum "Pessoal do Ceará", eine Gruppe von Musikerinnen und Musikern, die in den 70ern landesweit Karriere machten - weshalb die Leute aus Ceará ziemlich stolz auf ihren Belchior und dessen Kolleginnen und Kollegen sind. Mit seinem Album "Alucinação" hat er eines der bedeutendsten Alben der brasilianischen Popmusik geschaffen. Es ist emblematisch für den Komponisten, weil es die Suche nach sich selbst und der richtigen Art zu leben, die Frage nach der richtigen Gesellschaft präsentiert, die Belchiors Leben auszeichnet – ob er fündig wurde? Er war jedenfalls zweimal für die brasilianische Öffentlichkeit verschwunden und lebte versteckt, ohne öffentliche Auftritte und offenbar auch ohne Geld in Uruguay. Ein Reporterteam entdeckte ihn und fragte, was er tue, worauf er antwortete, dass er übers Leben nachdenke. (Angeblich versuchte er sich dabei auch an einer Übersetzung der Divina Commedia Dantes, die er auch in einem Lied "Divina Comédia Humana" vertonte, in dem er feststellt, dass in der menschlichen Version der göttlichen Komödie nichts ewig ist.)
Das titelgebende Lied des Albums "Alucinação" ist in der literarischen Form des "stream of consciousness" geschrieben. Es beschreibt eine Großstadtszene wie ein Wimmelbild und es kommt die programmatische Zeile vor: "Amar e mudar as coisas me interessa mais", also "zu lieben und die Dinge zu ändern", das interessiert mich mehr als irgendeine Theorie oder irgendeine Fantasie. Diese Idee findet sich auch im Lied "Como nossos pais" desselben Albums, das in Elis Reginas Interpretation zu großer (sogar internationaler) Berühmtheit gelangt ist. Darin geht es dann um die Schwierigkeit, die Welt zu verändern. Der Text sagt: "É melhor viver que sonhar", also: "Es ist besser zu leben als zu träumen", ein Slogan, der sich heute als Graffiti an vielen Hauswänden in Fortaleza findet – aber es schwingt eben auch die Verzweiflung darüber mit, dass wir immer noch genauso leben wie unsere Eltern ("como nossos pais"), obwohl wir doch alles anders machen wollten als sie.
Beide hier zitierten Lieder spannen eine Situation auf, in der wir uns in unserem Leben häufig befinden. Wir träumen und theoretisieren - aber wir wollen auch die Wirklichkeit ändern. Das ist jedoch meistens ganz schön schwierig - wir wollen anders als unsere Eltern leben und ehe wir uns versehen, verhalten wir uns genauso wie sie. Ich finde, diese Spannung passt gut zum Leben Belchiors, der zwischen Öffentlichkeit und totaler Zurückgezogenheit wechselte; der aus seiner Fantasie- und Gedankenwelt auftauchte, um die Realität mit seiner Musik zu verändern. Am heutigen Tag vor acht Jahren ist Belchior leider zu früh aus seiner irdischen Realität in eine andere, hoffentlich ganz fantastische übergegangen.