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Vom "Planeten Hunger" bis ans Ende der Welt: Elza Soares

Elza Soares wurde mit 12 Jahren verheiratet, mit 13 zum ersten Mal Mutter, mit 15 verlor sie ihr zweites Kind wegen Unterernährung, mit 21 war sie Witwe, mit 23 ging sie in die Radiosendung des Sambakomponisten Ary Barroso, um entdeckt zu werden. Da sie kein Geld und kein Kleid hatte, lieh sie sich das schönste ihrer Mutter - das war ihr allerdings viel zu groß. Das Publikum lachte und Barroso fragte sie, von welchem Planenten sie komme. Sie antwortete: "Vom selben wie Sie. Vom Planeten Hunger."

 

Als Elza Soares allerdings sang, bemerkten das Publikum und natürlich Ary Barroso das unzweifelhafte Talent der kleinen Frau im zu großen Kleid. Noch bevor diese das Lied zu Ende gesungen hatte, kam Ary Barroso auf sie zu, umarmte sie und meinte, dass hier gerade ein Stern geboren sei. Das war der Beginn der musikalischen Karriere der Elza Soares.

In dieser kleinen Szene konzentriert sich so Vieles, was das Leben von Elza Soares ausmacht und das in einen kleinen Blogeintrag niemals hineinpasst. Mit ihrer klaren Haltung, der sie über ihr 91 Jahre sich aufspannendes Leben treu blieb, wurde sie nicht nur zur Ikone der brasilianischen Musik, sondern der brasilianischen Gesellschaft. Gegen Ende ihres Lebens, im Jahr 2020, ehrte die Sambaschule "Mocidade" die Sängerin auf ihrem Karnevalszug (siehe Titelbild). Die Organisation bat Elza Soares jedoch darum, im kollektiven Freudentaumel des Karnevals auf politische Aussagen zu verzichten. Dann richtete sie sich an die Öffentlichkeit und meinte, dass man sie zwar zu schweigen gebeten hatte, um schließlich mit finsterer Mine hinzuzufügen: "Als ob sich eine Neunzigjährige die Stimme verbieten lassen würde. F*** dich selbst, Bolsonaro! Wir leben in einem Land der Träume, aber es ist Zeit, aufzuwachen." 

Dieses Zitat deutet das "sozialpolitische Programm" an, das sich bei Elza Soares mit ihrer Musik und allen Aspekten ihres Lebens verwob. Ihr ging es darum, den Blick auf die Realität zu lenken. Weg von den Träumen, mit dem man sich auf andere Planeten flüchtet und zurück zur Erde, wo Gewalt, Hunger und Ungerechtigkeiten herrschen. Sich mit der eigenen Realität zu konfrontieren und nicht zu flüchten war allerdings auch für Elza Soares nicht immer einfach. Sie erlebte ein Drama in der Ehe mit dem Fußballer Garrincha, der sich zu Tode soff und im Suff einen Autounfall fabrizierte, der ihre Mutter zu Tode brachte. Sie verlor vier Kinder durch Krankheiten oder Unfälle, eine Tochter wurde entführt. Sie erlebte Rassismus gegen Schwarze. Sie stammte aus ärmlichsten Verhältnissen. Ihr erster Ehemann schoss zweimal auf sie.

In dem Song "Maria da Vila Matilde", komponiert von Douglas Germano, interpretiert Elza Soares das Erleben häuslicher Gewalt als Aufruf zum Handeln. 2006 wurde unter dem Präsidenten Lula das Maria-da-Penha-Gesetz mit dem Ziel verabschiedet, den Schutz von Frauen vor physischer, psychischer, sexueller, moralischer und wirtschaftlicher Gewalt zu stärken. Es gilt weltweit als eines der fortschrittlichsten Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen und das Lied, das Elza Soares singt, ermutigt dazu, die Nummer 180 zu wählen ("Ligue 180"), wenn Frauen Opfer von Gewalt werden. Die Nummer kommt im Lied vor. Das Lied ist eine Aufforderung. Es heißt darin: 

 

"Cadê meu celular?

Eu vou ligar pro 180

Vou entregar teu nome

E explicar meu endereço

Aqui você não entra mais

Eu digo que não te conheço

E jogo água fervendo

Se você se aventurar"

/

"Wo ist mein Handy?

Ich werde die 180 anrufen

Ich werde deinen Namen nennen

Und meine Adresse erklären

Hier kommst du nicht mehr rein

Ich sage, dass ich dich nicht kenne

Und ich schütte kochendes Wasser

Wenn du es wagst, dich hierher zu trauen"

 

Im Lied "A Carne" von 2002, komponiert u.a. von Seu Jorge, singt Elza Soares: "A carne mais barata do mercado é a carne negra" – "Das billigste Fleisch auf dem Markt ist das schwarze Fleisch." Diese Zeile kritisiert, wie schwarze Menschen in Brasilien entwertet, ausgebeutet und marginalisiert werden. Andere Zeilen prangern an, dass Schwarze oft in Gefängnissen, prekären Jobs oder psychiatrischen Einrichtungen landen – Orte, wo sie "gratis" hingeschickt werden. Schon 1960 richtete sie den Blick der Öffentlichkeit in ihrem Album "Bossa Negra" auf das Thema des Rassismus. Sie eignete sich als schwarze Frau die Musik des Bossa Nova an, die häufig mit der weißen Mittelklasse Brasiliens assoziiert wurde. Sie bewies, dass auch schwarze Stimmen zur Avantgarde gehören konnten. Ein Lied aus dem Album ist "O Samba está com tudo" ("Der Samba ist angesagt"): In ihm geht es einfach um die Freude am Rhythmus des Samba, ihn zu singen und zu tanzen. Er macht glücklich, man braucht auf einer Party keine edlen Getränke oder klassische Musik. 

"Eu vou cantar até o fim", also "Ich werde bis zum Ende singen" heißt es im Album "Mulher do Fim do Mundo", "Die Frau vom Ende der Welt" von 2015. Der titelgebende Song des Albums, ein modern arrangierter und elektronisch angehauchter Samba, markiert Elza Soares' Comeback mit Mitte 80! Ein Comeback mit Mitte 80 ist ja wohl wirklich nicht vielen zuzutrauen - wenn jemand das schaffen konnte, dann Elza Soares! (Und dann legte sie vier Jahre später noch ein Album drauf mit dem Titel "Planeta Fome".) Sie reflektiert in dem Lied, was sie alles auf der Avenida hat liegen lassen und dort ausgestellt hat im Laufe ihres Lebens: Ihre Einsamkeit, ihre Meinung, ihre Rede, ihre Stimme und ihre schwarze Hautfarbe. 
Der brasilianische Modernist Murilo Mendes hat 1941 in seinem Gedicht "Metade Pássaro" geschrieben: "Die Frau vom Ende der Welt (...) Reißt mich aus dem ewigen Traum, In ihre singenden Arme". Das war Elza Soares!

 

(Foto: Wigder Frota, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons)