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"Chega de Saudade": Halb Moll, halb Dur!

Der Song "Chega de Saudade" von 1958 gilt als der erste auf Platte gepresste Bossa Nova überhaupt. Komponiert wurde er von Tom Jobim, der Text stammt von dessen kongenialem Partner Vinícius de Moraes. Auf der ersten Aufnahme, auf der Elizeth Cardoso die Gesangsstimme liefert, spielt der neben Jobim und de Moraes dritte große Mann des Bossa Nova, João Gilberto, in dem unverwechselbaren Stil Gitarre, in der er das Genre des Bossa Nova für immer definiert. 

 

"Chega de Saudade" bedeutet: Genug der Sehnsucht, wobei "Sehnsucht" die zu simple Übersetzung für das im Portugiesischen schillernde "Saudade" ist: Dort bedeutet es ein Gefühl, das eine Mischung ist aus der Erinnerung an etwas Geliebtes, aus dem Verlust des Geliebten und aus dem Wissen, dass dieses Vermisste vielleicht nie wieder so zurückkehren wird wie es einmal war. Das Gefühl besteht also in der Ambiguität der Trauer darüber, dass etwas Schönes vorbei ist, und der Freude darüber, dass es das Schöne einmal gegeben hat - und dass dieses in dem Verlangen auf eine bestimmte Weise doch/noch existent ist. (Oder wie der Philosoph Franz Brentano, über den ich ein bisschen geforscht habe, wahrscheinlich sagen würde: In der "Saudade" ist das Objekt des Verlangens "intentional inexistent"). 

Dieses Schillern, halb traurig, halb fröhlich, bringen Komponist und Texter des Songs auch musikalisch zum Klingen. Die 68 Takte des Songs bestehen aus zwei Teilen. Auf 32 Takte in einer Molltonart folgen 36 Takte in der parallelen Durtonart. (Cardosos Aufnahme beginnt zum Beispiel in D-Moll und wechselt nach D-Dur.) Die Stimmung hellt sich im zweiten Teil des Liedes also auf. Aus Moll wird Dur; denn es reicht, es ist genug mit der Sehnsucht ("Chega de Saudade"!). Der Wechsel von Moll auf Dur ist die Absage an den Schmerz und die Hinwendung zur Hoffnung. Hoffnung bezieht sich auf die Zukunft: Die Verben werden in Futur getextet. Also: "Wenn sie zurückkommt, dann werde ich ihr mehr Küsse und Umarmungen geben, als Fische im Meer sind." Die Musik in Dur drückt diese Hoffnung aus.

Der schillernde Charakter von Saudade kommt in dem Lied als Ganzem wunderbar zum Ausdruck. Irgendwie steckt in ihr auch eine Hoffnung: Die positive Seite der Medaille des Gefühls der Sehnsucht ist immer schon latent in deren negativer Seite vorhanden.

Dass ich vom Instituto Antônio Carlos Jobim, an dem das Titelbild dieses Blogeintrags fotografiert wurde, die offizielle Erlaubnis bekommen habe, das erste Lied des Bossa Nova aufzunehmen, in dem die zentrale Stimmung dieses Musikgenres titelgebend ist, hat mich ziemlich fröhlich gemacht.